Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind sehr vielseitig, besonders dramatisch trifft es die psychische Gesundheit. Ein Viertel der österreichischen Bevölkerung leidet unter depressiven Symptomen, in der jungen Generation sind es mehr als die Hälfte. Tendenz steigend. Im Interview mit Anneliese Steiner, Psychotherapeutin beim Verein Zellkern, beleuchten wir das gesellschaftliche „Tabu-Thema“ Depression.

Laut Studien der Donau-Uni Krems leidet rund ein Viertel der Österreicher an depressiven Verstimmungen, 23 Prozent haben Angstsymptome und 18 Prozent Schlafstörungen. Die wesentlichen Ursachen sind neben Sorgen um die eigene Gesundheit, Zukunftsängste, finanzielle Probleme und Einsamkeit. Welche Veränderung nehmen Sie bei Ihren Klienten seit Beginn der Pandemie wahr?
Anneliese Steiner: Bei jüngeren Menschen nehme ich mehr Veränderung wahr als bei Erwachsenen. Viele Jugendliche sind in eine Perspektiven­losigkeit abgestürzt – vor allem dann, wenn es der Schule oder den Lehrern nicht gelungen ist, ihre Schüler aufzufangen. Ich habe erlebt, dass sehr viel Druck anstatt motivierender Unterstützung entstanden ist. Problematisch ist auch, dass durch die Pandemie die Pubertät nicht entsprechend gelebt werden kann, Gruppenbegegnungen, sozialer Austausch etc. fehlen. Jugendliche müssen sich orientieren können, gleichzeitig müssen sie für ihre Entwicklung aber auch Dinge in Frage stellen können.

Die junge Generation scheint auch am meisten betroffen – laut einer Anfang April veröffentlichten Studie der Uni Krems leiden 56 Prozent der Schüler ab 14 Jahren unter depressiven Symp-tomen, die Hälfte unter Ängsten und ein Viertel unter Schlafstörungen. Seit Beginn der Corona-Pandemie haben sich diese Zahlen verfünf- bis verzehnfacht, Tendenz steigend. Woran liegt das? Wirkt sich die Pandemie auf Kinder anders aus als auf Erwachsene?
Anneliese Steiner: Den Jugendlichen wurden viel Freiraum, Begegnung und Bewegung genommen. Durch das viele Zuhause-sein-Müssen entstehen oft auch mehr Reibungen. Alles, was dabei vorher vielleicht schon in Annäherung da war, wurde durch die Situation verstärkt. Depression ist grundsätzlich Aggression auf sich selbst. In der Psychotherapie versuche ich gemeinsam mit dem Klienten zu verstehen, woher das kommt und wie man unterdrückte Emotionen zum Ausdruck bringen kann.

Besonders besorgniserregendes Studienergebnis: Rund 16 Prozent der Schüler geben an, täglich oder an mehr als der Hälfte der Tage ­suizidale­ Gedanken zu haben. Wie kann ich als Elternteil Anzeichen für eine ­Depression oder suizidale Gedanken bei meinem Kind erkennen?
Anneliese Steiner: Erste Anzeichen können Traurigkeit und Rückzug sein. Wenn Eltern wahrnehmen, dass das Kind langsamer, inaktiver, unmotivierter, zurückgezogener und trauriger wird, sollten sie achtsam sein.

Wie können Eltern ihr Kind hier am besten unterstützen?
Anneliese Steiner: Zuallererst sollten Eltern versuchen, nicht in Panik zu geraten. Denn Angst und Panik bei der Bezugsperson löst wiederum Stress beim Jugendlichen aus. Ganz wichtig ist, in Kontakt zu treten, nachzufragen und das Gefühl zu vermitteln „Ich bin da.“ Und dieses Angebot auch immer wieder zu wiederholen. Man kann Vorschläge für gemeinsame Unternehmungen machen. Dabei sollte man vermeiden, zu sagen „Das tut dir gut“, sondern eher „Es wäre schön, wenn wir gemeinsam spazieren gehen“. Wenn Depressionen auftauchen, sollte man sich auf jeden Fall professionelle Hilfe holen. Und das gilt nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für Angehörige, denn diese stoßen dabei oft selbst auch an ihr Limit.

Experten sagen, dass neben sozialen Kontakten, körperlicher Bewegung und genügend Schlaf, auch ein strukturierter Tagesablauf wichtig ist für Betroffene. Leichter gesagt als getan?
Anneliese Steiner: Kinder und Jugendliche brauchen Grenzen. Eine Tagesstruktur ist wichtig, muss aber nicht zu 100 Prozent halten. Es reichen 80 Prozent. Das heißt: Es braucht eine klare Linie, aber diese darf hin und wieder verschoben werden. Die Eltern sind hier gefordert, Strukturen mit dieser Leichtigkeit der Ausnahmen zu schaffen. Denn Kinder brauchen Orientierung. Wichtig ist, dass ich mit meinem Kind in Beziehung bleibe, mit ihm auch mal etwas ausverhandeln kann und gemeinsam Regeln schaffe.

Ist das Psychotherapie-Angebot in Österreich ausbaubar?
Anneliese Steiner: Ja, absolut, vor allem auch in finanzieller Hinsicht. Die Jugendpsychotherapie nimmt zu. Doch was auch noch sehr hemmt, ist dieses gesellschaftliche Stigmata, man müsse sich dafür schämen, in Psychotherapie zu sein. Das Wort ‚Psychotherapie‘ wird leider als erstes nur mit Krankheit verbunden. Psychotherapie ist aber auch Persönlichkeitsentwicklung. Und wem tut das bitte nicht gut?! Entwicklung ist Bewegung und wo Bewegung ist, kann sich etwas zum Positiven verändern. Grundsätzlich gibt es hier sicher noch viel Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.

 

Verein Zellkern
Familienberatungsstelle für schwer und
chronisch Kranke und deren Angehörige
Landstraße 35b, 4020 Linz
Tel.: +43 732 / 60 85 60
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.zellkern.at/linz